Wenn die Kirche aus allen Nähten bricht

Erschienen am 5. August 2019 in Stamm

Es ist ein angenehm kühler Montagmorgen Ende Juli, als die Jugendlichen der Schrozberger Pfadfinderstufe verschlafen aus ihren Zelten kriechen. Doch nach einem schnellen Zwischenstopp an den Waschhäusern geht es heute nicht etwa zum Frühstück, sondern zunächst in die Versöhnungskirche zum gemeinsamen Morgengebet.

Für manch einen mag dies leicht befremdlich klingen, gehört doch ein Kirchgang sicher nicht zu den üblichen Morgenritualen der Fünfzehn- bis Sechzehnjährigen irgendwo in Europa. Doch das Zelt unserer Jugendlichen steht nicht irgendwo, sondern in Taizé im französischen Burgund und so sind die Pfadfinderinnen und Pfadfinder auch nicht allein sondern mit etwa 3000 Jugendlichen und jungen Erwachsenen aus ganz Europa unterwegs zum gemeinsamen Gebet.

Schon seit 1966 empfängt die ökumenische Bruderschaft das ganze Jahr über Jugendliche aus aller Welt und aller Konfessionen um, meist für die Dauer von einer Woche, Gemeinschaft zu erfahren. Das bedeutet gemeinsam zu leben, zu singen, zu beten und über Gott und die Welt zu diskutieren. Geschlafen wird dabei in einfachen Baracken oder, so wie unsere Pfadfinder, in Zelten.

Die Teilnehmer teilen sich für die Dauer des Aufenthalts in Kleingruppen auf, in denen sie täglich über kurze Bibelimpulse nachdenken und darauffolgend diskutieren, welche Verbindung diese vielleicht zu ihrem täglichen Leben haben. In meiner Kleingruppe geht es heute um die Geschichte der Hochzeit von Kana und der wundersamen Verwandlung von Wasser zu Wein. Schon bald diskutiere ich mit Jugendlichen aus verschiedenen Teilen Deutschlands und Portugal auf Englisch darüber, ob solche Wunder heute überhaupt noch vorkommen.

Höhepunkt des Tages sind auch heute wieder die drei Gottesdienste, für die sich jedes Mal tausende Besucher versammeln. Zusammen mit den Brüdern der Taizé-Gemeinschaft werden dabei jedoch keine Predigten oder Gebete gehört. Vielmehr besteht ein Gottesdienst aus einem kurzen, in mehreren Sprachen vorgetragenen Schrifttext und vor allem aus den bekannten und eingängigen „Taizé-Liedern“, welche die ganze Kirche zusammen aus vollem Mund singt – und das mehrstimmig. Wahrscheinlich geht es mir wie den meisten, wenn für mich diese kraftvollen Lieder zusammen mit der regelmäßigen minutenlangen Stille zur Besinnung und persönlichem Gebet das magische Element von Taizé ausmachen.

Neben den Gesprächsrunden und Gebeten packt ein jeder in Taizé auch praktisch mit an. In der Gruppe fallen Dienste wie Toiletten reinigen, Müll entsorgen oder die Mithilfe bei der Vorbereitung der einfachen Mahlzeiten leicht.

Doch wird in Taizé nicht nur gebetet und gearbeitet. Außer bei den vielerlei lustigen Gruppenspielen, die sicher jedem, der einmal in Taizé war, beigebracht wurden, kommt man besonders abends in der Kneipe auf ein Gespräch unter (neuen) Freunden zusammen. Das „Oyak“, wie die Kneipe hier genannt wird, ist auch Schauplatz zahlreicher spontanen Darbietungen von Tanz und vor allem Gesängen aus aller Welt. Auch heute bringt ein schwungvoller Gesangswettstreit mit einer Vielzahl von mitgebrachten Instrumenten die Menge bis spät abends zusammen.

Insgesamt entsteht so für unsere Pfadfinder wohl eine Woche voller intensiver Eindrücke und Erfahrungen. Diese hatten sich im vergangenen Jahr häufig mit dem eigenen Lebensweg beschäftigt. „Wir haben uns auf unserem Stufenwochenende letztes Jahr viel von unserem bisherigen Lebensweg erzählt. Jetzt stellt sich doch die Frage, was das für uns bedeutet und wie es weiter geht“, sagte einer meiner Pfadfinder vor ein paar Monaten während einer Truppstunde und die anderen pflichten ihm bei. So traf es sich, dass Eva, die als Leiterin selbst schon einige Male in Taizé war, die Möglichkeit einer solchen Woche in unserer Truppstunde vorstellte. Bald fand sich eine Hand voll Pfadfinder, die nun gemeinsam das Abenteuer Taizé gewagt haben. Dabei wurde auch ich als „Taizé-Neuling“ schnell von diesem besonderen Geist ergriffen, der jeden so willkommen heißen will, wie er oder sie ist. Spätestens nach einer Woche war wohl den meisten klar, was ich mir selbst schon nach den ersten Tagen gewünscht habe: Nächstes Jahr wollen wir diesen Freiraum, Fragen nach Gott und dem Sinn des Lebens stellen zu können, unbedingt weiteren Pfadfindern aber auch uns selbst wieder ermöglichen.